Ich habe mir lange überlegt, ob ich diesen Kommentar überhaupt schreiben soll. Denn ich möchte niemandem gegen das Schienbein treten oder ihn in seinem Enthusiasmus bremsen. Und unbeliebt machen möchte ich mich auch nicht unbedingt. Aber hin und wieder muss man Farbe bekennen, auch wenn es weh tut.
1) Amprion
Es handelt sich hier um ein Wirtschaftsunternehmen, das einen fetten Auftrag an Land gezogen hat und sich hohe Umsätze und Gewinne verspricht. Auftraggeber ist die Politik bzw. der Gesetzgeber. Amprion führt "lediglich" den Auftrag aus und ist in keiner Weise daran interessiert, welche Art von Leitung realisiert wird und welchen Weg sie nimmt. Amprion ist die geplante Freileitung vermutlich genauso recht wie eine Erdverkabelung entlang der A9. Für Amprion ist sozusagen das "ob" entscheidend, das "wie" ist Nebensache. Und der Mensch ist hierbei kein oder zumindest kein bestimmender Faktor.
Natürlich sollte ein Unternehmen auch gesellschaftspolitische und moralische Werte nicht ganz außer Acht lassen. Aber was (insbesondere für große) Unternehmen in erster Linie zählt ist nunmal der Profit. Und die Hoffnung, dass sich Amprion auf unsere Seite schlägt und damit gleichzeitig seine Melkkuh verprellt, entbehrt meiner Meinung nach jeglicher Grundlage.
2) Erfordernis der Stromtrasse ja/nein
Es mag Experten geben, die die Stromtrasse für entbehrlich halten. Und ich selbst finde die Tatsache, dass die Trasse zu den ostdeutschen Braunkohlekraftwerken verläuft, zunächst auch reichlich verdächtig. Aber:
Es herrscht offensichtlich ein breiter und überparteilicher Konsens dahin gehend, dass die Stromtrasse eben doch gebraucht wird. Auch die GRÜNEN (!) sind meines Wissens dieser Meinung und ihre Argumentation entbehrt nicht einer gewissen Logik: Nach dem Abschalten der Kernkraftwerke werden für eine Übergangszeit die Kohlekraftwerke dringend gebraucht, um die Versorgung sicherzustellen. Erst mittelfristig können dann auch die Kohlekraftwerke abgelöst werden. Bis dahin muss aber erst einmal die alternative Energiegewinnung ausgebaut und vor allem das Problem der mangelnden Speicherkapazitäten gelöst werden. Und dass die Trasse zu den Kohlekraftwerken führt, wird u. a. damit begründet, dass bereits bestehende Knotenpunkte genutzt werden sollen, um dann später die Leitungen der Offshore-Anlagen u. a. anzubinden. Die Grünen sind also anscheinend für die Stromtrasse, allerdings auch für die Erdverkabelung!
Wie gesagt, das scheint die Meinung der Grünen zu sein und das muss ja nicht unbedingt den Tatsachen ensprechen. Aber es ergibt sich für mich zumindest die Frage, ob man die Trasse an sich oder - weil eventuell sinnvoller und Erfolg versprechender - "lediglich" Art/Verlauf bekämpfen sollte.
3) Medien
Im Zusammenhang mit Demonstrationen/Veranstaltungen wird oftmals darauf hingewiesen, dass auch Vertreter der Medien erscheinen und über die Aktionen berichten wollen. Wenn man jedoch die bisherige Berichterstattung nüchtern betrachtet, dann sind die Gegner der Stromtrasse nicht allzu gut weg gekommen. Sie wurden in der Regel als Bremser der Energiewende dargestellt, als eigennützige Störenfriede und unverbesserliche Sturköpfe. Die Nöte der Menschen wurden weitgehend ausgeklammert.
Günstigstenfalls war die Berichterstattung "neutral". So zumindest mein Eindruck. Die Ursache hierfür könnte meines Erachtens sein, dass zu viel gegen die Stromtrasse an sich argumentiert wird anstatt gegen Art/Verlauf und dass den Medienvertretern die höchstpersönliche Betroffenheit der Menschen nicht ausreichend klar gemacht werden konnte.
4) Politik
Wir leben quasi in einem Ein-Parteien-System. Seit Jahrzehnten ist die CSU in Bayern an der Macht. Und das (mit einer kurzen Unterbrechung) ohne die unerquickliche Erfordernis, sich mit einem politischen Partner oder einer allzu starken Opposition herum schlagen zu müssen. Seehofer und seine Kumpane sind es gewöhnt, "alleine und von Gottes Gnaden" zu regieren. Wenn da nur nicht die immer wieder kehrenden Wahlen wären, die doch ein gewisses Maß an Unsicherheit mit sich bringen.
Aber keine Bange, so wird sich unser Horst denken, die Bayern sind 11 Millionen, von der Trasse direkt betroffen nur ein paar Tausend. Warum also sollte sich die CSU irgend welche Sorgen machen? Dem größten Teil des bayerischen Wahlvolkes ("Stimmvieh") geht die Stromtrasse reichlich am A.... vorbei. Und auch die Stromtrassengegner werden sich irgend wann wieder beruhigen und - wie so üblich - in den Schoß der CSU zurück kehren. So war es immer und so wird es auch in Zukunft wieder sein. Zur Not wird eben wieder eine Autobahnmaut gefordert oder irgend ein anderer (eigentlich nebensächlicher!) "Firrlefanz" und schon kann die CSU wieder auf eine breite Zustimmung bauen.
5) "Moratorium"
Dieses vorübergehde Stillhalten dient meiner Meinung nach ausschließlich dazu, a) die bevor stehenden Wahlen hinter sich zu bringen und b) darauf zu warten, dass sich Wut und Protest mit der Zeit abschwächen und tot laufen. Danach kann man wieder zur Tagesordnung übergehen.
6) "historische" Chance???
Wenn man gegen bestehende Widerstände etwas erreichen will und hierfür auf einen Partner angewiesen ist, stellen sich zunächst zwei Fragen: a) Wer kann mich unterstützen? b) Wie kann ich ihn dazu bewegen? Im vorliegenden Fall sind es seltsamer Weise die CSU und die Machtgier der Politiker. (Haha, was für eine Ironie.)
Glücklicherweise werden demnächst Kommunalwahlen abgehalten. Dort könnte man die CSU-Kommunalpolitiker mit aller Macht abstrafen und ihnen genau das entziehen, was sie doch so dringend brauchen: ihre Macht. Und zwar unabhängig davon, ob sie sich für oder gegen die Stromtrasse stark gemacht haben. Das ist natürlich schon ein Stück weit ungerecht. Aber hier geht es nach dem Prinzip "mit gefangen - mit gehangen".
Entlang der geplanten Trasse sollte kein einziger CSU-Kandidat als Bürgermeister oder Landrat übrig bleiben und auch in den Kommunalparlamenten muss der "Schwarze" zum Exoten werden. Das würde innerhalb der CSU-Basis einen derartigen Proteststurm gen München entfachen, dass selbst ein "Horst von Gottes Gnaden" hiervon nicht unberührt bleibten könnte, insbesondere angesichts der zwei Monate später folgenden Europawahl.
Natürlich sollten wir auch die Kommunalpolitiker der anderen Parteien nicht vergessen, die sich ausdrücklich den Zielen der Stromtrassengegnern widersetzen. Auch ihnen sollte unser "Dank" zuteil werden.
PS: Das Ganze hört sich wahrscheinlich nach Klassenkampf an. Aber ich möchte ausdrücklich versichern, dass ich keiner Partei/Wählergemeinschaft angehöre oder nahe bin und in der Mitte der Gesellschaft stehe. Aber besondere Umstände erfordern nun einmal besondere Maßnahmen.
Abschließend möchte ich mich insbesondere bei allen CSU-Mitgliedern entschuldigen sowie bei allen Aktivisten, deren Weltbild mit meinem eigenen nicht im Einklang steht. Ich wollte niemandem zu nahe treten, ihn verächtlich machen, ihm in irgend einer Art schaden oder was auch immer. Und ob sich irgend jemand meiner Argumentation anschließt oder auch nur darüber nachdenkt, bleibt ihm selbst überlassen ...
So. Genug gelabert. Schönes Wochenende, Jürgen